Symposium I
Symposium II
Exhibition / 52-Hour-Lab
Jean-Baptiste Joly
Vorbemerkungen zu
»Dealing with Fear«


Hans Ulrich Gumbrecht
Since When and Why Are We Afraid
of the Future?


Bertrand Bacqué, Ingrid Wildi Merino
Beetween Fear as a Spectacle
and Interiorized Fear


Vadim Bolshakov
Genetic Roots of Instinctive
and Learned Fear


David N. Bresch
Von irrationalen Ängsten
zu versicherbaren Risiken


Paula Diehl
Dealing with Fear
The Mise en Scène of the SS
in National Socialist Propaganda


Björn Franke
Violent Machines for Troubled Times


Teresa Hubbard, Beate Söntgen
Home and Fear
An Email-Conversation
after the Symposium’s Talk


Iassen Markov, Stephan Trüby
Temple of Janus 2.0
The 5 Codes_Space of Conflict


Jürgen Mayer H., Henry Urbach
Mind the Gap
A Transcript of the Symposium’s Talk


Matthias Aron Megyeri
Sweet Dreams Security® Est. 2003
Notes from an Orwellian City


Jasmeen Patheja, Hemangini Gupta
Fear as Experienced
by Women in Their Cities

Ortwin Renn, Andreas Klinke
Von Prometheus zur Nanotechnologie
Der gesellschaftliche Umgang
mit Risiken und Bedrohungen


Gabi Schillig
The Politics of Lines.
On Architecture/War/Boundaries
and the Production of Space


Gerald Siegmund, Maren Rieger
Die Another Day: Dealing with Fear

Jens Martin Skibsted, Adam Thorpe
Liberty versus Security:
Bikes versus Bombs


Helene Sommer
High over the Borders
Stories of Hummingbirds, Crying Wolves,
and the Bird’s Eye View


Yi Shin Tang
Dealing with the Fear of Abuse
of Intellectual Property Rights
in a Globalized Economy


Margarete Vöhringer
Keine Angst im Labor
Nikolaj Ladovskijs psychotechnische
Architektur im postrevolutionären Moskau


Susanne M. Winterling
Dealing with Fear: an Inside
and an Outside Perspective



Photo Gallery

Ortwin Renn, Andreas Klinke
Von Prometheus zur Nanotechnologie
Der gesellschaftliche Umgang mit Risiken und Bedrohungen


Einleitung

Vom Hubschrauber aus gesehen sieht es aus wie nach einem Inferno: Überall brennen Scheiterhaufen, auf denen sauber aufeinander gestapelt Rinder- oder Schafskadaver unter hoher Hitze auf offenem Feld verbrannt werden. Dunkler Rauch steigt zum Himmel empor. Tierschützer laufen Sturm, Veterinärmediziner wiegeln ab. Wer das Risiko von Seuchen in den Griff bekommen will, darf nicht zimperlich sein, so die offizielle britische Tonart. Erst die Vernichtung schaffe Sicherheit. Gleichzeitig laufen im Sender BBC erschreckender Bilder eines Todeskampfes: Die 15-jährige Marilyn leidet an der neuartigen Creutzfeldt-Jakob-Krankheit. Sie ist bis zum Skelett abgemagert, scheint nur noch vor sich hinzuvegetieren und wartet auf den unausweichlich bevorstehenden Tod. Auf der einen Seite kollektive Entrüstung über ein landwirtschaftliches System, das Tiermehl an vegetarische Kühe verfüttert und die dabei auftretenden Risiken offenkundig unterschätzt hat, auf der anderen Seite die Statistiker, die alles in Relation setzen. In den letzten 15 Jahren sind ungefähr so viele Menschen an der neuartigen Creutzfeldt-Jakob-Krankheit in Europa gestorben wie am unachtsamen Trinken von parfümiertem Lampenöl. Während im ersten Fall Minister ihren Hut nehmen mussten, die wirtschaftlichen Verluste in die Milliarden Euros gingen, die Verbraucher völlig verunsichert reagierten und das Vertrauen in die politische Risikoregulierung dramatisch sank, konnte die für den zweiten Fall zuständige Behörde, das Bundesinstitut für Risikobewertung, nur nach Jahren intensiver Lobbyarbeit einen Warnhinweis auf Lampenöl durchsetzen.

Versagen unsere politischen und sozialen Systeme, deren Aufgabe es ist, Risiken für Gesundheit und Umwelt nach rationalen und nachvollziehbaren Kriterien zu begrenzen? Laufen wir in eine Risikospirale hinein, bei der wir echte oder vermeintliche Risiken mit immer neuen Risiken zu begrenzen suchen? Stürzen wir uns, angeregt durch Massenhysterie und eine kollektive Handlungsmaxime, die nur den kurzfristigen wirtschaftlichen Vorteil ins Kalkül zieht, in immer neue Abenteuer, ohne im Geringsten die Folgen des eigenen Handelns sinnvoll abzuschätzen und einen Mittelweg zwischen Tollkühnheit und technologischer Erstarrung einzuschlagen?

Ob BSE, Maul- und Klauenseuche, Klimawandel, Nanotechnologie oder Terrorismus – die Öffentlichkeit wird einem Wechselbad von Schreckensnachrichten und Katastrophenmeldungen auf der einen und Versprechen über technologische Durchbrüche und laufende Eindämmung von Gefahren auf der anderen Seite ausgesetzt. Die Folge dieses heillosen Durcheinanders ist schlichtweg Verunsicherung. Nach dem Scheitern von Kopenhagen, nach dem verheerenden Erdbeben in Haiti und nach den diversen Skandalen bei Lebensmitteln suchen die meisten Menschen nach Orientierung im Wirrwarr widersprüchlicher Einschätzungen, sensationslüsterner Berichterstattungen und hilfloser Reaktionen aus Wirtschaft und Politik: Wie hoch sind die Risiken der modernen Welt nun wirklich? Was steht auf der Haben- und was auf der Sollseite? Wie kann die Gesellschaft sicherstellen, dass sie die Risiken adäquat erfasst und auch beherrscht?


Der Mythos vom Prometheus

So neuartig, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag, ist die heutige Situation nicht. Zwar haben die durch Menschen verursachten Katastrophen inzwischen globale Ausmaße angenommen; zwar haben wir erst heute die Kommunikationsmittel, um jedes Schadensereignis, gleichgültig wo es sich abspielt, öffentlichkeitswirksam auf dem Bildschirm zu projizieren; zwar sind unsere technologischen Möglichkeiten, mit Bedrohungen fertig zu werden, in gleichem Maße gestiegen, wie unsere Möglichkeiten, diese selbst auszulösen, aber das Phänomen ungewisser Bedrohungen und der Wunsch nach vorbeugendem Risikomanagement sind so alt wie die Menschheit selbst. Gerade in Zeiten historischer Umbrüche wurde der »Umgang mit Risiken« immer wieder thematisch aufgegriffen und zum bestimmenden »Topos« des jeweiligen gesellschaftlichen Diskurses.

Eine solche Umbruchssituation fand etwa in der Zeit um 600 vor unserer Zeitenrechnung im antiken Griechenland statt. In dieser historischen Epoche vollzog sich der allmähliche Wandel zu einer organisierten Landwirtschaft mit Ackerbau und Viehhaltung. Dieser Umbruch spiegelt sich eindringlich in der damaligen Literatur wider. Vor allem Hesiods Genealogie der Götter und sein Almanach für Bauern (Werke und Tage) sind beredte Zeugnisse dieser Umbruchphase. Die damalige Risikobeschreibung erfolgte in der Form von mythologischen Bildern. Inhalt und Sinn solcher Bilder erschließen sich zum Teil erst bei näherem Hinsehen und setzen ein Verständnis für symbolische Botschaften voraus. Mythische Vorstellungen sind keineswegs irrationale Ausgeburten einer überschäumenden Fantasie, sondern ganzheitlich wirksame Kommunikationsangebote mit indirekten Handlungsanweisungen. Man muss sie nur zu deuten wissen.

Im Mittelpunkt der Götterwelt des Hesiod steht Prometheus. Sein Name (der Vorhersehende) ist Programm: Er hat die Gabe der Voraussicht. Entgegen dem Willen der Götter verbündet er sich mit den Menschen, lässt sie an seiner Gabe teilhaben und bringt ihnen zudem das Feuer. Dafür wird er von den Göttern hart bestraft: An einem Felsen angekettet wird ihm bei lebendigen Leib von einem Vogel die Leber herausgerissen – und dies Tag für Tag, bis Herakles ihn schließlich befreit. Die Menschen übernehmen die Gabe des Prometheus und werden zu Mitschöpfern ihrer Umwelt: Vorausschau ist unabdingbare Voraussetzung für Ackerbau und Viehzucht, die Kontrolle über das Feuer Bedingung für Handwerk und städtisches Leben.

Das Erwachen des menschlichen Bewusstseins über die Folgen menschlicher Handlungen ist in dem einige Jahrhunderte später verfassten Drama von Aischylos Der gefesselte Prometheus eindrücklich beschrieben. Prometheus beschreibt die Preisgabe seiner Macht an die Menschen in folgenden Versen:

Nur meiner Gaben gute Absicht deut ich aus
Sie, die zu Anfang Augen hatten, doch nicht sahen
Und Ohren, die nicht hörten, sondern wie Gebild
Von Träumen ihre lange Lebenszeit hindurch
Blind all in eines Wirren und nichts wussten von
Ziegelgewebten Häusern noch vom Zimmerwerk,
Sondern vergraben hausten wie die wimmelnden
Ameisen, im Geklüft von Höhlen, sonnenlos,
und wussten nichts: ...
Als erster schirrt ich unters Joch das Wildgetier
Dass es im Pfluge frone, Lasten trag und so
Der schwersten Müh’n des Menschen manche nehme ab.

Die Götter aber zürnen über die neue Machtfülle der Menschen. Sie schicken Pandora, eine besonders ansehnliche Frau, zu Prometheus, die dieser in weiser Voraussicht der zu erwartenden Folgen abweist. Aber sein Bruder Epimetheus, dessen Name darauf hinweist, dass er erst handelt und dann an die Folgen denkt, lässt sich von Pandora blenden und lässt sie in sein Haus. Dort öffnet sie ihre berühmte Büchse, aus der alle Übel dieser Welt herausquellen und die Menschen nunmehr heimsuchen: Krankheit, Siechtum, Unglück. Als Letztes verbleibt nur noch ein Geschenk: die Hoffnung.

Der Mythos des Prometheus windet sich über viele weitere Stationen, die hier nicht weiter aufgeführt werden können. Das Bild einer Zwillingsbruderschaft von Prometheus und Epimetheus, zwischen der gestalterischen Kraft der Vorausschau, heute nennen wir dies Antizipation oder Simulation, und der Gefahr einer achtlosen Akzeptanz von Risiken auf der Basis von Blendwerk, könnte nicht aktueller sein. Alle Merkmale moderner Risikokonflikte sind in dem Mythos enthalten: die Folgenabschätzung mit Hilfe von systematischem Wissen, die Überschätzung der eigenen Möglichkeiten, die wir bis heute mit dem griechischen Begriff der »Hybris« verbinden, die unvermeidbare Kopplung von Chancennutzung und der Erfahrung negativer Nebenwirkungen, das Sich-blenden-Lassen von den Verheißungen der technischen Vernunft, ohne die damit verbunden Kosten zu sehen, der Neid der Mächtigen gegenüber den Entfaltungsperspektiven der weniger Mächtigen und so weiter. All dies ist verdichtet in einigen wenigen Bildern aus der Mythologie, die ihre Wirkung beim Publikum, den zunehmend auf vorausschauender Planung agierenden Bauern und Handwerkern, mit Sicherheit nicht verfehlt haben.


Ein ratloser Beraterkreis

Im Jahr 1998 hatte sich der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung für Globale Umweltveränderungen (WBGU) für sein Jahresgutachten das Thema »Umgang mit Risiken« vorgenommen. Welcher Rat über den Umgang mit den komplexen Risiken der Moderne kann der Bundesregierung überhaupt gegeben werden? Die traditionelle Weise, mit Risiko umzugehen, besteht darin, auf der Basis wissenschaftlicher Methodik das Ausmaß und die Wahrscheinlichkeit unterschiedlicher Schadensmöglichkeiten zu berechnen und darauf aufbauend Maßnahmen zu ergreifen, die das Risiko, verstanden als Ausmaß multipliziert mit der Wahrscheinlichkeit, in einem noch gerade tolerierbaren Maß (Restrisiko) zu halten. Diese generelle Vorgehensweise ist typisch für die Bewertung und das Management von Risiken weltweit. Doch offensichtlich, so die zwölf Wissenschaftler und ihre Mitarbeiter, reicht diese Verfahrensweise nicht aus, um Risiken wie BSE, den Klimawandel oder auch gentechnische Veränderungen wirksam in den Griff zu bekommen. Natürlich lassen sich die Methoden der Risikoanalyse weiter verfeinern und das Risikomanagement noch effektiver gestalten, aber den Experten war nach eingehender Diskussion klar, dass der Ansatz nicht ausreicht. Ihn völlig über Bord zu werfen, wie es vor allem von radikalen Umweltschutzgruppen gefordert wird, widerspricht, so die einhellige Meinung der Experten, der bisherigen Erfahrung mit diesem Ansatz. Denn die klassische Risikobewertung hat sich im Falle der überwiegenden Anzahl der betrachteten Risiken durchaus bewährt (und dadurch auch zu einem nachvollziehbaren und rationalen Umgang beigetragen). Der Ansatz ist aber offensichtlich für zahlenmäßig kleine, aber in ihrer Auswirkung besonders folgenschwere Risiken nicht mehr adäquat.

Was aber sind die Alternativen zum traditionellen Ansatz der Risikobewertung? Sollte die öffentliche Meinung Maßstab für Risikobewertung und Risikobegrenzung sein? Das ergibt wenig Sinn, wenn man bedenkt, wie oft die öffentliche Meinung sich ändert und wie stark sie von gerade hoch gehandelten Modeerscheinungen abhängt. Gibt es unter diesen Umständen andere, rational nachvollziehbare Kriterien, mit deren Hilfe man die neuen, wenig vorhersehbaren Risiken besser charakterisieren und damit auch begrenzen könnte?

In dieser schwierigen Situation erinnerte sich der Beirat an die Symbolik der griechischen Mythologie: Nicht, dass man bewusst einen Altphilologen einbezogen hätte, um das Risikoproblem zu lösen, aber die intensive Nachforschung in der Geschichte des Umgangs mit Risiken förderte den Mythos um Prometheus und die anderen Götter-Gestalten erneut zutage. Im Umfeld von Prometheus treten eine Reihe von Göttern und Wesen (mit Leitbildcharakter) auf, die alle eines gemeinsam haben: Sie personifizieren eine besondere Eigenschaft oder ein hervorstechendes Merkmal von Risiko. Die mythischen Personenbilder stellen die griechische Antworten auf den Versuch dar, das Grunddilemma der Gleichzeitigkeit von der Erfahrung eines zunehmenden Wissens über die Zukunft und der zunehmenden Unsicherheit über die Folgen des eigenen Handelns mental zu bewältigen.

Einmal auf diesen Zug aufgesprungen, sah man Physiker, Biologen, Ökonomen und Sozialwissenschaftler aus dem Beirat in die Lektüre von Hesiod und Sophokles vertieft, um eine Übersicht zu gewinnen, wie das in den Mythen verdichtete Erfahrungswissen über komplexe neuartige Risiken in die moderne analytische Sprache überführt werden könnte. Die Aufgabe der Wissenschaftler bestand darin, die historische Risikoerfahrung mit Analysen und Vorschlägen aus der aktuellen Fachliteratur über den besseren Umgang mit modernen Risiken zu einer sinnvollen Einheit zusammenzubringen. Das Ergebnis dieser vielfältigen Bemühungen gipfelte in einer Risikotypologie, die auf der Basis von sieben Merkmalen eine Klassifikation in sechs Klassen mit eigenem Risikoprofil und Risikomanagementvorschlägen vorsieht. Die sechs Klassen erhielten griechische Namen, um einerseits die Kontinuität der Risikobetrachtung vom Altertum bis heute zu verdeutlichen und andererseits die Kraft des Bildes für die Vermittlung von Risiken zu nutzen.


Risikoklasse Schwert des Damokles

Die griechische Mythologie berichtet, dass Damokles einst zu einem Bankett bei seinem König eingeladen war. Er musste sein Mahl jedoch unter einem scharf geschliffenen und an einem dünnen Faden aufgehängten Schwert einnehmen, so dass das Schwert des Damokles zu einem Sinnbild einer im Glück drohenden Gefahr wurde. Der Mythos berichtet jedoch nicht, dass der Faden gerissen ist und die fatalen Konsequenzen eingetreten sind. Die Bedrohung rührte daher eher von der Möglichkeit, dass sich das tödliche Ereignis für Damokles jederzeit hätte ereignen können, auch wenn die Wahrscheinlichkeit äußerst gering war. Typische Beispiele hierfür sind technologische Risikopotenziale wie Kernenergie, großchemische Anlagen und Staudämme, aber auch Meteoriteneinschläge. Dieser Risikotyp ist durch die Möglichkeit einer verheerenden Katastrophe, aber gleichzeitig durch eine sehr geringe Wahrscheinlichkeit des Eintritts dieser Katastrophe gekennzeichnet. So ist das primäre Kennzeichen dieses Risikotyps die Kombination aus geringer Eintrittswahrscheinlichkeit und sehr hohem Schadensausmaß (siehe Abb.).

Würde das gesamte Inventar eines modernen 1.200 MW Kernkraftwerkes freigesetzt, dann könnten im schlimmsten Fall mehrere Millionen Menschen in ihrer Gesundheit betroffen und ganze Landstriche unbewohnbar werden. Viele großchemische Anlagen, Lagerstätten oder Verarbeitungszentren sind ebenfalls durch große Katastrophenpotenziale bei geringer Eintrittswahrscheinlichkeit des Schadens gekennzeichnet. Obgleich solche Risikoquellen eher seltener im Brennpunkt des öffentlichen Interesses stehen, sind sie in ihrer Struktur den kerntechnischen Anlagen verwandt. So ereignete sich beispielsweise 1984 in Bhopal (Indien) eine Katastrophe mit über 2.500 Toten und 150.000 Verletzten, bei der toxische Gase aus der Pestizidproduktion freigesetzt wurden. Ähnliches gilt für große Staudämme. Bei den über 40.000 großen Staudämmen weltweit sind Millionen Menschen in deren Unterlauf durch einen Bruch der Staumauer gefährdet. Eine solche Katastrophe ereignete sich beispielsweise 1967 beim Koyna-Damm in Indien, wo mehr als 18.000 Menschen ums Leben kamen.

Neben den technologischen Risiken gehören aber auch natürliche Gefahren wie Meteoriteneinschläge in diese Kategorie. Einer der bekanntesten Meteoriteneinschläge ereignete sich bei der mexikanischen Halbinsel Yucatán in der Kreidezeit im Übergang zum Tertiär vor ungefähr 65 Millionen Jahren. Damals – so die plausibelste Hypothese – löste der Einschlag eines ungefähr zehn Kilometer großen Meteoriten die so genannte fünfte Auslöschung biologischer Vielfalt aus, bei der nicht nur die Dinosaurier ausgestorben sind, sondern auch etwa 75 Prozent aller Tier- und Pflanzenarten auf der Erde. Das kann sich leider jederzeit wiederholen.


Risikoklasse Zyklop

Die antiken Griechen erzählen von mächtigen Riesen, die dadurch gestraft waren, dass sie nur ein einziges Auge hatten, weshalb sie »Rundaugen« oder Zyklopen genannt wurden. Mit nur einem Auge geht die mehrdimensionale Perspektive verloren. Zyklopen versinnbildlichen Risiken, wo eine Seite bekannt ist, die andere aber ungewiss bleibt, das heißt für die Betrachtung von Risiken, dass nur eine Seite, nämlich das Schadensausmaß, abgeschätzt werden kann, während die andere Seite, die Eintrittswahrscheinlichkeit, ungewiss bleibt (siehe Abb.).

Bei den Risiken dieses Typs ist die Wahrscheinlichkeit des Eintritts einer Katastrophe ungewiss. Zugleich können die Experten das Ausmaß einer möglichen Katastrophe aber gut abschätzen. Eine Reihe von natürlichen Gefahren wie Erdbeben, Vulkanausbrüche und El Niño sind hier als typische Vertreter zu nennen.

Oft liegen zu wenige Kenntnisse über kausale Faktoren vor. In anderen Fällen beeinflusst menschliches Verhalten die Eintrittswahrscheinlichkeit, so dass Ungewissheit durch willentliche Entscheidungen hervorgerufen wird. Am Beispiel Aids wird dies deutlich. Die WHO schätzt für das Jahr 2009 mehr als 36 Millionen Menschen, die an HIV erkrankt sind, das ist eine Zunahme von 5,4 Millionen gegenüber dem Vorjahr. Allein 2009 sind etwa 2,3 Millionen Menschen daran gestorben. Ein anderes Beispiel ist die kriegerische und terroristische Verwendung von ABC-Waffen.


Risikoklasse Pythia

Die alten Griechen konsultierten in zweifelhaften und ungewissen Fällen eines ihrer Orakel. Das berühmteste war wohl das Orakel von Delphi mit der blinden Seherin Pythia. Pythia benebelte ihre Sinne mit Gasen, um in Trance Vorhersagen und Ratschläge für die Zukunft geben zu können. Pythias Weissagungen blieben jedoch immer mehrdeutig.

Für die Risikobewertung bedeutet dies, dass sowohl die Eintrittswahrscheinlichkeit als auch die Dimension eines möglichen Schadens unsicher bleiben, das heißt, die Ungewissheit ist hoch (siehe Abb.). Als Beispiele sind hier menschliche Eingriffe in Ökosysteme, gentechnologische Innovationen in Landwirtschaft und Lebensmittelproduktion und ein möglicherweise galoppierender Treibhauseffekt, dessen Risiken derzeit nicht abzuschätzen sind, zu nennen.

Bei der Gentechnologie in der Landwirtschaft geht es beispielsweise um gentechnisch veränderte Rohstoffe zur Nahrungsmittelproduktion, Resistenz- und Intensivierungszüchtungen, Produktivitätssteigerungen oder Qualitätsveränderungen. Die Risikopotenziale liegen dabei nicht in den gentechnischen Methoden selbst, sondern vielmehr in den unbeabsichtigten Folgen bestimmter Anwendungen oder einer ungewollten Verbreitung transgener Organismen.


Risikoklasse Büchse der Pandora

Viele Übel und Missstände erklärten die alten Griechen mit dem Mythos der Büchse der Pandora, auf die bereits hingewiesen wurde. Solange die Büchse der Pandora geschlossen bleibt, ist nichts zu befürchten. Dieser Zustand lässt sich aber nicht immer aufrechterhalten, wie die Vergangenheit zeigt. Wurde die Büchse geöffnet, dann wurden alle Übel und Krankheiten freigesetzt und verursachten weit reichende, beständige und irreversible Schäden. Ähnlich wie beim Risikotyp zuvor sind auch hier Eintrittswahrscheinlichkeit und möglicher Schaden ungewiss. Die Experten sind sich jedoch einig, dass die möglichen Risikoschäden dieses Typs regionale Grenzen überschreiten und sogar globale Auswirkungen haben können. Sie sind zeitlich sehr stabil, das heißt, sie sind oftmals über mehrere Generationen wirksam und in der Regel sind die Folgen irreversibel. Typische Vertreter sind persistente organische Schadstoffe (POPs), Endokrine und Veränderungen im Biosystem, die über lange Zeiträume stabil bleiben (siehe Abb.).

Ein passendes Beispiel für diesen Typus ist die Zerstörung der Ozonschicht durch Fluorkohlenwasserstoffe. Während der vergangenen Jahrzehnte haben sich die stratosphärischen Ozonkonzentrationen erheblich verringert. Die verstärkte Einstrahlung von schädlichem ultraviolettem Licht (UV-B-Strahlung) auf die Erdoberfläche ist am deutlichsten in der südlichen Hemisphäre festzustellen. Das vom Menschen verursachte Ozonloch erreichte 1998 seinen vorläufigen Höhepunkt. Das Loch über der Antarktis erreichte eine Größe von 27,3 Millionen km2, was der doppelten Fläche Europas entspricht, und blieb nahezu 100 Tage stabil. Das Ozonloch am Nordpol ist zwar nicht vergleichbar mit dem Loch am Südpol, der Ozonabbau beträgt aber inzwischen trotzdem bis zu 60 Prozent des durchschnittlichen Ozonwerts.


Risikoklasse Kassandra

Kassandra, eine Seherin der alten Trojaner, hatte nicht das Problem der Ungewissheit, sondern das der Glaubwürdigkeit ihrer Vorhersagen, obwohl sie richtig waren. Sie sagte die Gefahr eines griechischen Sieges sicher und korrekt voraus, aber ihre Landsleute schenkten ihr keinen Glauben. Natürlich sind Risiken des Risikotyps Kassandra nur dann relevant, wenn das Schadenspotenzial und die Eintrittswahrscheinlichkeit hoch sind. Deshalb ist diese Risikoklasse auch besonders dramatisch in ihren Auswirkungen (siehe Abb.).

Bei den Risiken dieses Typs wird die Wahrscheinlichkeit katastrophaler Folgen von den Experten als sehr hoch eingeschätzt, aber es liegt eine erhebliche Verzögerung zwischen dem auslösenden Ereignis und dem Eintritt der Folgen vor. Das führt zu der Situation, dass solche Risiken von Politik und Öffentlichkeit ignoriert werden. Der anthropogen verursachte Klimawandel und der weltweite Verlust biologischer Vielfalt sind solche Risikophänomene. Die katastrophalen Schäden werden sich mit hoher Wahrscheinlichkeit ereignen, aber die hohe Verzögerungswirkung führt zu der Situation, dass niemand bereit ist, diese Bedrohungen anzuerkennen. Das haben wir gerade in Kopenhagen zu spüren bekommen.

Ein weiteres Beispiel dafür ist der Verlust der biologischen Vielfalt: Die Experten bezeichnen den aktuellen Verlust als sechste Auslöschung und vergleichen ihn in seinen Dimensionen mit der so genannten fünften Auslöschung biologischer Diversität durch den Meteoriteneinschlag bei Yucatán. Der gegenwärtig bereits eingesetzte Verlust biologischer Vielfalt, der überwiegend anthropogen verursacht ist, könnte, wenn die begonnene Dynamik nicht abgebremst wird, ein ähnliches Schadensausmaß annehmen.


Risikotypen, Quelle: WBGU (1999)

Risikotypen, Quelle: WBGU (1999)


Bei der jetzigen Dynamik und Geschwindigkeit ist auch die Wahrscheinlichkeit, das heißt der Eintritt der maximalen Schadensfolgen, relativ gut abschätzbar. Im Verlauf der nächsten 100 Jahre wird es zu einem gravierenden Verlust der Biodiversität und zu großskaligen Veränderungen in der Biosphäre kommen. Durch diese Verzögerungswirkung ist bei den Menschen eine nur geringe Betroffenheit festzustellen, ein Bewusstsein für die Folgen des Verlustes sowie ein langfristiges Verantwortungsgefühl sind unzureichend ausgeprägt. Allerdings muss man auch darauf hinweisen, dass einige Experten das Schadensausmaß eines Biodiversitätsverlusts als gering ansetzen, weil – so die Meinung dieser Expertengruppe – die Menschheit in der Lage ist, eine für die menschlichen Bedürfnisse optimierte Umwelt gestalten zu können.


Risikoklasse Medusa

Die mythologische Welt der antiken Griechen war voller Gefahren, die die Menschen, Helden und sogar die olympischen Götter fürchteten. Die imaginären Gorgonen waren besonders schrecklich. Die Medusa war eine von drei imaginären Gorgonenschwestern, die die alten Griechen fürchteten, weil allein ihr Anblick den Betrachter zu Stein werden ließ (siehe Abb.)


Risikotyp Charakterisierung Beispiele

Schwert des Damokles

Sehr hohes Schadenspotenzial
Geringe Eintrittswahrscheinlichkeit

Kernkraftwerke, großchemische Anlagen, Staudämme, Meteoriteneinschläge

Zyklop

Hohes Schadenspotenzial Ungewisse Eintrittswahrscheinlichkeit

Erdbeben, Vulkanausbrüche, Überschwemmungen, El Niño, Aids, ABC-Waffen

Pythia

Ungewisses Schadenspotenzial
Ungewisse Eintrittswahrscheinlichkeit

Eingriffe in biogeochemische Kreisläufe, Gentechnik, BSE

Büchse der Pandora

Ungewisses Schadenspotenzial
Ungewisse Eintrittswahrscheinlichkeit
Hohe Ubiquität, Persistenz und Irreversibilität

Chlororganische Schadstoffe
(z. B. FCKW, DDT)

Kassandra

Hohes Schadenspotenzial
Hohe Eintrittswahrscheinlichkeit
Hohe Verzögerungswirkung

Anthropogen verursachter Klimawandel
Verlust biologischer Vielfalt

Medusa

Geringes Schadenspotenzial
Geringe Eintrittswahrscheinlichkeit
Hohes Mobilisierungspotenzial

Elektromagnetische Felder

Tabelle 1: Risikotypen


In ähnlicher Weise, in der die Gorgonen Angst und Schrecken verbreiteten, lösen einige moderne Phänomene bei den Menschen aufgrund psychischer Mechanismen bei der subjektiven Risikowahrnehmung Schrecken aus. Einige Innovationen werden abgelehnt, obwohl sie wissenschaftlich kaum als Bedrohung eingeschätzt werden können, aber sie sind durch spezielle Merkmale gekennzeichnet, die auf individueller Ebene Angst erzeugen oder sozial unerwünscht sind. Solche Phänomene haben ein hohes Mobilisierungspotenzial in der Öffentlichkeit. Diese Risikoklasse ist aber nur von Interesse, wenn zwischen der Risikowahrnehmung der Laien und der Risikoanalyse der Experten eine besonders große Lücke besteht. Elektromagnetische Felder, in der Umgangssprache oft »Elektrosmog« genannt, sind ein typisches Beispiel dafür.


Drei Management-Regime für die sechs Klassen

Was ist nun mit der Auffächerung von Risiken in sechs Klassen gewonnen? Hilft uns diese Aufteilung, mit neuen Risiken besser umzugehen, oder ist dies alles nur eine anregende Spielerei, um Brücken zur Welt der Antike zu schlagen?


Risikotyp Eingriffskriterium Vorrangige Maßnahme(n)

Schwert des Damokles

Hohes Katastrophenpotenzial

Technische und organisatorische Maßnahmen zur Reduktion des maximalen Katastrophenumfangs

Zyklop

Hohes Katastrophenpotenzial
Ungewisse Eintrittswahrscheinlichkeit

Verbesserung des Wissens, Eindämmung, Containment

Pythia

Hohe Ungewissheit, aber kausaler Zusammenhang

Anwendung des Vorsorgeprinzips, Containment, Haftung

Büchse der Pandora

Hohe Irreversibilität
Akkumulation über Zeit und Raum

Entwicklung von Substituten, Vorsorgeprinzip, Containment

Kassandra

Hohe Verzögerung zwischen Auslöser und Wirkung

Bewusstseins- und Vertrauensbildung, Einbezug von Gruppen mit Langfristorientierung

Medusa

Hohe Mobilisierung der Bevölkerung

Risikokommunikation, Beteiligung von Betroffenen

Tabelle 2: Risikoklassen und Maßnahmen zu ihrer Begrenzung


Die sechs Klassen zeigen Gesellschaften den Weg für einen besseren Umgang mit den Risiken der jeweiligen Klasse. Jede Risikokloasse hat nämlich eine besondere Eigenschaft, die sie von den anderen unterscheidet und an der dann auch die Maßnahme zur Risikobewältigung ansetzen muss. Tabelle 2 zeigt diese Merkmale und weist auf die angepassten Strategien hin, effektive Maßnahmen für die Umweltrisikopolitik ableiten zu können.

Aus den sechs Klassen entspringen drei wesentliche Strategien, die als risikoorientierte, vorsorgeorientierte und diskursive Strategien bezeichnet werden. So benötigen die Risikoklassen »Damokles« und »Zyklop« vor allem risikoorientierte Strategien, »Pythia« und »Pandora« erfordern die Anwendung von Vorsorge und die Risikoklassen »Kassandra« und »Medusa« machen vorrangig diskursive Strategien zur Bewusstseins- und Vertrauensbildung notwendig. Wie unterscheiden sich die drei Management-Strategien?

Risiko-basierte Maßnahmen setzen an den beiden klassischen Komponenten Wahrscheinlichkeit und Schadensausmaß an, ohne aber eine multiplikative Verbindung zwischen den beiden Komponenten vorzunehmen. Innerhalb des Risikotyps »Damokles« sind die wichtigsten Bewertungskriterien Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadensausmaß relativ gut bekannt, so dass die verbleibenden Ungewissheiten relativ gut abgeschätzt werden können. Die Besonderheit von »Damokles«-Risiken besteht in dem hohen Katastrophenpotenzial. Primäre Aufgabe des Risikomanagements ist es deshalb, das Katastrophenpotenzial zu reduzieren, indem der maximal mögliche Schaden durch weitere Forschung und Veränderungen des technischen Designs überschaubar gemacht wird. Beispielsweise war in der Vergangenheit die primäre Strategie in der Kernenergie, die Unfallwahrscheinlichkeit einer Kernschmelze zu verringern. Diese Maßnahme verringert zwar das Risiko im klassischen Sinne (Wahrscheinlichkeit mal Schadensausmaß), hilft aber nicht, das Element, das gerade die Bedrohung ausmacht, wirksam anzugehen. Sinnvoller wäre eine Verringerung des Katastrophenpotenzials (in der Zwischenzeit findet diese Umorientierung auch statt).

Innerhalb des Risikotyps »Zyklop« sind eine Verknüpfung von risikoorientierten und vorsorgeorientierten Strategien nützlich, weil das Schadensausmaß zwar relativ bekannt ist, aber die Wahrscheinlichkeitsverteilung ungewiss bleibt. Um dieses Defizit beheben zu können, ist eine verstärkte Forschung und ein intensives Monitoring zur besseren Abschätzung der Wahrscheinlichkeitsverteilung erforderlich. Haftungsregelungen oder eine Versicherungspflicht für Risikoerzeuger bieten zusätzliche Anreize zur Reduzierung des Katastrophenpotenzials oder zur Prävention unerwünschter Überraschungen: Betreiber werden dadurch ermutigt, ihre Kenntnisse zu verbessern und die verbleibenden Risiken zu verringern.

Typische Kandidaten für die vorsorgeorientiertenStrategien sind Risiken aus den Klassen »Pythia« und »Pandora«. Beiden Risikoklassen ist gemein, dass die beiden klassischen Komponenten der Eintrittswahrscheinlichkeit und des Schadensausmaßes mit großen Unsicherheiten verbunden sind. Bei »Pandora« kommt hinzu, dass die Auswirkungen zeitlich wie örtlich andauern, also Folgen gar nicht oder nur mit großem Aufwand rückgängig gemacht werden können. Hier ist also besondere Vorsicht im Sinne des vorausschauenden Prometheus angebracht. Was bedeutet das konkret? Als Erstes kann das generelle Minimierungsgebot hier greifen. Risiken sollen danach kontinuierlich reduziert werden, gleichgültig ob damit signifikant messbare Effekte auf Gesundheits- und Lebensrisiken verbunden sind. Das Umweltrecht kennt solche Minimierungsgebote unter den Akronymen ALARA (as low as reasonably achievable), BACT (best available control technology), SdT (Stand der Technik) und andere mehr. Zum Zweiten können solche Risiken in ihrer zeitlichen und örtlichen Ausdehnung begrenzt werden, im englischen Sprachgebrauch wird dies als containment-strategy bezeichnet. Je stärker ein Risiko räumlich und zeitlich begrenzt wird, desto eher kann man mit möglichen negativen Folgen leben, sollte sich ein Anfangsverdacht auf schädliche Wirkung als berechtigt herausstellen. Beispielsweise wird in der Anwendung der grünen Gentechnik schon nach diesem Prinzip weitgehend verfahren. Zum Dritten kann man nach Indikatoren Ausschau halten, die ein leicht messbares Merkmal des Ausgangsstoffes oder der Ausgangstechnik beschreiben und gleichzeitig die Möglichkeit einer fatalen Wirkung indizieren. In einem größeren Projekt für die EU hat die TA-Akademie zusammen mit Partnern aus der Schweiz und Großbritannien die Aufgabe übernommen, solche Indikatoren für Chemikalien zu ermitteln. Schließlich kann man gezielt nach Substituten oder Alternativen suchen, die hinsichtlich der Kriterien »globale Verteilung« und »zeitliche Persistenz« niedrige Werte aufweisen.

Für Risiken der Klassen »Kassandra« und »Medusa« sind dagegen auf die Gesellschaft bezogene Management-Maßnahmen gefragt, die wir unter dem Begriff »diskursive Verfahren« gefasst haben. Beide Risikoklassen stehen sich in ihrer sozialen Dimension nahe, wenn auch aus gegensätzlichen Gründen: Bei der »Kassandra«-Klasse nimmt die Gesellschaft ein ernsthaftes Risiko einfach nicht ausreichend wahr, bei der »Medusa«-Klasse dramatisiert sie ein Risiko, ohne dass es dafür gute Gründe gäbe. Die Therapie für beide Fälle ist ähnlich: Man braucht mehr Kommunikation und Vertrauen zwischen den gesellschaftlichen Gruppen. Im ersten Fall gilt es, die Ernsthaftigkeit der Bedrohung durch Diskurse, vor allem unter Einbezug der gesellschaftlichen Gruppen, die auf Langzeitperspektiven hin orientiert sind, zu verdeutlichen. Hier sind Kirchen, multinationale Unternehmen, Umweltgruppen, Regierungen und internationale Organisationen gleichermaßen gefragt. Im zweiten Falle geht es um eine möglichst transparente und urteilsbildende Risikokommunikation, die nicht in paternalistischer Form zu belehren sucht, sondern den Bürgern die Chance gibt, auf der Basis der faktischen Zusammenhänge und der verbleibenden Unsicherheiten ein eigenes Urteil zu bilden. Häufig können auch verbesserte Mitwirkungsmöglichkeiten bei diesen Risikoklassen zu einer angemesseneren Form der Risikowahrnehmung führen.

Alle drei Management-Klassen sind natürlich nicht exklusiv zu verstehen. Viele Risiken benötigen eine parallele Behandlung nach allen drei Klassen, weil sie in ihren unterschiedlichen Ausprägungen die Bedingungen mehrerer Klassen erfüllen. Es ist geradezu das Kennzeichen der modernen Risiken, die im Blickpunkt dieses Artikels stehen, dass sie alle drei Management-Kategorien durchlaufen müssen.


Schlussbetrachtung

Bei aller Kunstfertigkeit und Subtilität der neuen Werkzeuge zur Erfassung und Bewältigung der modernen systemischen Risiken sollte die Grundbotschaft des Prometheus Mythos nicht untergehen. Die Zukunft wird zwar von uns »gemacht«, sie ist aber nicht machbar. Wir gestalten zwar die Bedingungen unseres künftigen Lebens, wir beherrschen unsere Zukunft aber nicht. Bloßes Machen führt zwangsweise in die Hybris, bloßes Erdulden zwangsweise in das Elend. Verantwortbares Risikomanagement bedeutet, die Chancen der technischen Entwicklung zu nutzen und dabei die Verwundbarkeiten, die in Begleitung des technischen und sozialen Wandels auftreten, so einzugrenzen, dass wir für alle die Chancen eines menschengerechten Lebens verbessern helfen. So reflektiert auch Prometheus im Drama des Aischylos im Dialog mit der Chorführerin:

Chorführerin: Bist Du nicht doch zu weit gegangen?
Prometheus: Den Sterblichen nahm ich vorzuwissen ihren Tod
Chorführerin: Für solches Leid, welch Heilmittel fandest Du?
Prometheus: Ich siedelte in ihnen Hoffnung an.
Chorführerin: Gar große Wohltat für das sterbliche Geschlecht!

 



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